nicht ausgestellt
Einstieg
Wilhelm Lehmbrucks weibliche Figur – die erste großformatige Frauengestalt in seinem Werk – ist nur mit einem Tuch bekleidet, das ihre Beine bedeckt. Den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, strahlt sie eine andachtsvolle Ruhe aus, wirkt introvertiert und nicht weniger melancholisch. Der nackte weibliche Körper ist dabei in sich geschlossen. Lehmbruck deutet lediglich den Griff nach dem verrutschten Tuch an, betont ansonsten aber das Statuarische seiner Figur. Dennoch besitzt der weibliche Akt mit seinen harmonischen und regelmäßigen Rundungen eine spürbare Sinnlichkeit.
Besonders der Gestaltung tiefer Emotionalität, die auch in diesem Hauptwerk zu finden ist, blieb Lehmbruck Zeit seines Lebens treu. Gemeinsam mit der charakteristischen Überlängung seiner später entstandenen Figuren gab diese unverhüllte Emotionalität dem expressionistischen Menschenbild einen plastischen Ausdruck. Die »Große Stehende« markiert den Übergang von Lehmbrucks frühen Arbeiten zu seinem Hauptwerk.
Einstieg
Wilhelm Lehmbruck’s female figure—the first large-format figure of a woman in his work—is naked except for a cloth which covers her legs. With her head leant slightly to the side, she radiates a devout peace, appearing introverted and somewhat melancholy. The naked body remains self-contained, with Lehmbruck merely implying the act of reaching for the slipped cloth, focusing instead on the figure’s statuesque qualities.
Nevertheless, with its smooth, harmonious curves, the female nude possesses a tangible sensuality. Lehmbruck remained faithful throughout his life to the depiction of deep emotionality, which is also evident in this major work. Together with the characteristic elongation of his later figures, this bare emotionality gave sculptural articulation to his Expressionist image of man. »The Tall Standing Woman« marks the transition from Lehmbruck’s early work to his mature period.
Kunsthalle Mannheim
Transkription
Die Frau schaut Ihnen nicht in die Augen. Ihr Kopf ist leicht nach links geneigt, der Blick geht seitlich nach unten. Sie können ihn nicht einfangen. Mit den herabhängenden Schultern entsteht ein trauriger, melancholischer Eindruck. Schämt die junge Frau sich etwa? Ob ihrer Nacktheit? Ob unserer Blicke? Nur mit einem Tuch bekleidet, steht die junge Frau vor Ihnen. Und selbst das verdeckt lediglich ihre Beine vom Oberschenkel bis zu den Knöcheln. Mit der rechten Hand scheint sie nach ihm zu greifen. Als hätte sie das Tuch noch vor einem Augenblick vom Fallen abgehalten. Vielleicht steht sie aber auch ganz bewusst so vor Ihnen. Vielleicht lässt sie das Tuch im Gegenteil langsam fallen. Präsentiert verführerisch und sinnlich die harmonischen, regelmäßigen Rundungen ihres Körpers. Gleichzeitig ist sie keineswegs lasziv oder provokant. Sie steht lediglich da in ihrer Nacktheit. Unbewegt, den Blick gesenkt. Etwas schüchtern vielleicht. Das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Melancholie prägt Lehmbrucks Figur. Dadurch, dass der Künstler den statuarischen Charakter seiner Figur betont, strahlt sie eine andachtsvolle Ruhe aus. Gleichzeitig ist sie sehr ausdrucksstark. Die Abwesenheit raumgreifender Bewegungen und das Tuch um die Beine verleihen der Figur eine starke Geschlossenheit. Diese hebt die Kombination der beiden zentralen Motive - Sinnlichkeit und Melancholie zusätzlich hervor. So verleiht Lehmbruck seiner Skulptur einen Ausdruck tiefer Emotionalität. Ebenso wie die Verwendung des Steingusses zieht dieser sich durch das gesamte Werk des deutschen Bildhauers. Darin stellt die Skulptur, die Sie vor sich sehen den Übergang von den frühen Arbeiten zum Hauptwerk dar. Während die "Große Stehende" noch ein realistisches Abbild des Menschen ausdrückt, steigerte Lehmbruck später den Ausdruck seiner Figuren durch überraschende Längung der Körper, insbesondere der Extremitäten. Damit verfolgte er sein Ziel als Pionier der expressionistischen Plastik: Statt einer möglichst lebensnahen Nachbildung die innere Haltung des Menschen abzubilden.