© VG Bild-Kunst, Bonn 2018
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Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas

)

La mante, grande

Große Gottesanbeterin
Large Praying Mantis
1946

Germaine Richier

(1902-1959)

Material / Technik
Bronze
Holzsockel
Kategorie des Exponats
Skulptur
Gattung
Rundplastik
Erwerbungsjahr
1970
Maße
162,00 cm x 46,00 cm x 91,00 cm
Standort

Hector-Bau > Ebene 1 > Kubus 3

Hintergrund

Das Frühwerk der bedeutenden französischen Bildhauerin Germaine Richier war geprägt von einer klassisch akademischen Ausbildung an der École des Beaux-Arts in Montpellier und ihren Pariser Lehrjahren bei Emile-Antoine Bourdelle (1861–1929), einem Assistenten Rodins. In den Büsten und Torsi der 1920er und 1930er Jahre experimentierte Richier mit der bewegten, zerklüfteten Oberflächenstruktur Rodins und den kraftvollen Formen Bourdelles, und feierte erste große Erfolge.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Rückkehr aus dem Schweizer Exil nach Paris fand sie in Form und Inhalt zu einer außergewöhnlichen Sprache. Richiers hybride Wesen – Insekten-Frauen, Fledermaus-Menschen und Krallenwesen – waren schon für die Zeitgenossen befremdlich und schockierend. Im Kontext ihrer Entstehung verwiesen sie auf die Leiden und Schrecken des Holocausts und des Krieges. Heute erschüttern die langgliedrigen, ausgemergelten Wesen mit ihrer von Verletzungen und Schmissen übersäten Haut als Verkörperungen physischen wie psychischen Schmerzes schlechthin. Anders als die gestreckten, in ihrer Einsamkeit gefangenen Figuren Alberto Giacomettis (1901–1966), sind Richiers Gestalten monströse Deformationen des Menschen, die auf das Erdulden, aber auch auf das Ausüben ungeahnter Seelenqualen hindeuten.

»La mante, grande«, die »Große Gottesanbeterin« – bereits 1970 für die Kunsthalle Mannheim erworben – steht dem Betrachter mit einer Höhe von 1,20 Metern in bedrohlicher Präsenz gegenüber. An den skelettartigen Leib schließen zum Absprung gespannte Insektenbeine an, der Kopf erinnert mit den hervorstehenden (Facetten-)Augen an eine Heuschrecke und trägt zugleich menschliche Züge.

Richier interessierte an den Insektenwesen nicht nur der Aspekt der Verwandlung, sondern auch die Bewegung eines fragilen Körpers im Raum. Den Grundsatzfragen nach dem Verhältnis von Masse, Form, Pose und Raum begegnete die Bildhauerin mit besonderer Sensibilität: „Ich versuche nicht Bewegung wiederzugeben. Meine Intention geht vor allem dahin, Bewegung vorstellbar zu machen. Meine Skulpturen sollen den Eindruck erwecken, unbeweglich zu sein und sich gleichzeitig bewegen zu wollen.“ Das heißt, genau jener Augenblick zwischen angespannter Ruhe und blitzschnellem Absprung soll sichtbar werden.

Die stundenlang unbeweglich auf der Lauer liegende Fangschrecke, die das Männchen nach dem Geschlechtsakt auffrisst, führt dies deutlich vor Augen. Zudem impliziert die Gottesanbeterin eine sexuelle Konnotation, galt sie doch bereits in der griechischen Mythologie als magisches, verführerisches Wesen. Richiers Faszination für diese Tiere und ihre Symbolik lag wohl auch in ihrer Begegnung mit den Pariser Surrealisten begründet, für die Metamorphosen, Verfremdungen und verdrängte Begierden zentrale Themen darstellten. Hinzu kam ihr lebenslanges Studium der heimischen Flora und Fauna, die sie als „organische Wahrheit“ zum Ausgangspunkt ihrer Imagination erklärte, denn „auf diese Weise kann man direkt zur Poesie gelangen“, ohne der Gestalt sämtliche Bezüge zur Realität zu rauben.

Nach ihrem frühen Tod 1959 mit nur 55 Jahren geriet das zu Lebzeiten gefeierte Werk der Künstlerin für einige Zeit in Vergessenheit. Wenn es Beachtung fand, wurde es meist zur Einflussnahme männlicher Kollegen, insbesondere Giacomettis, befragt. Heute jedoch ist Richiers Oeuvre als originäre Einzelleistung in der Geschichte der Bildhauerkunst des 20. Jahrhunderts fest verankert. Das von ihr entwickelte, metaphorische Menschenbild wurde in seiner poetisch-skulpturalen Umsetzung zum Vorbild vieler zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen.

Einstieg

What are we witnessing here, a huge insect or a human body? The embodiment of an animal or the distorted figure of a person? Since the 1940s, Germaine Richier has fused the animalistic with the human, developing perplexing works from this combination of two worlds.

In the »Large Praying Mantis«, this Surrealist development, reminiscent of both a dream and a nightmare, is immediately apparent, incorporating elements that are animal (the elongated limbs and the thin body) as well as human (hands, a feminine torso, and a face). They are, however, insufficient to form either a complete insect or a complete person, with transformation and metamorphosis—along with the eerie and frightening aspect of the figure preparing to attack—taking center stage. It appears to be part of a dream world which Richier repeatedly attempts to access through her work.

Hintergrund

The early work of the important French sculptress Germaine Richier was influenced by her classical academic training at the Ecole des Beaux-Arts in Montpellier and her apprenticeship in Paris to Emile-Antoine Bourdelle (1861–1929), an assistant of Rodin. In the busts and torsos of the 1920s and 1930s, Richier experimented with the rough, fissured surface structure of Rodin’s work and the powerful forms of Bourdelle, which led to her first major success.

After the end of World War II and her return to Paris from exile in Switzerland, she arrived at an unusual language of form and content. For her contemporaries, Richier’s hybrid creatures – insect-women, bat-men and clawed creatures – were disconcerting and shocking. In the context of their creation, they point to the suffering and horrors of the war in general and the Holocaust in particular. Today, these long-limbed, emaciated beings continue to unsettle viewers; their skin, riddled with injuries and lacerations, seems like the very embodiment of physical and mental pain. Unlike the elongated figures of Alberto Giacometti (1901–1966), which are caught up in their loneliness, Richier’s figures are monstrously deformed humans, who remind us of the endurance – and the execution – of unimagined mental agony.

With its height of 1.2 metres, »La mante, grande«, or the »Large Praying Mantis« – acquired for the Kunsthalle Mannheim as early as 1970 – confronts the viewer with its threatening presence. The skeletal body is attached to insect-like legs, which are tensed and ready to spring; the head, with its protruding (compound) eyes, evokes a locust and yet, at the same time, also bears human traits. What interested Richier in these insect creatures was not only the aspect of metamorphosis, but also the way the fragile bodies moved through space. The sculptress treated the fundamental questions of the relationship between mass, form, posture and space with particular sensitivity: “I do not try to convey movement. My intention is above all to make the idea of movement seem imaginable. My sculptures should arouse the impression that they are motionless, and yet at the same time that they want to move.”

She thus strives to make visible that precise moment between a sense of tense calm and quickly jumping away. This is clearly demonstrated by the female mantis, which lies in waiting, motionless for hours, and then consumes the male immediately after the sexual act. The praying mantis also implies a sexual connotation, since even in Greek mythology it was regarded as a magical, seductive creature. Richier’s fascination with these insects and their symbolism is also rooted in her encounter with the Surrealists in Paris; for them, metamorphosis, alienation and suppressed desire were central themes. Moreover, she made a lifelong study of local flora and fauna, which she declared to be the “organic truth” and the starting point for her imagination, for “in this way one can arrive directly at poetry”.

Without robbing the figure of all its links with reality. After her premature death in 1959 at the age of only 55, Richier – whose work had been acclaimed during her lifetime – was forgotten for some years. When it was appreciated, it was mostly examined with regard to the influence of male colleagues, especially Giacometti. Today, however, Richier’s oeuvre stands firm as an original and individual achievement in the history of twentieth century sculpture. The metaphorical image of mankind which she developed served in its poetic sculptural execution as a model for many contemporary artists.

Creditline

Leihgabe des Landes Baden-Württemberg seit 1970

Inhalt und Themen
Gottesanbeterin
Tiere
Frau
Metamorphose
Surrealismus surrealism
zerklüftet (Oberfläche)
Insekten
Längung
Schlankheit
Einzelfigur
matt (Oberfläche)
Mischwesen
bedrohlich
Unheimlichkeit
Audio file

Ein überlanger Hals, verzerrte Gliedmaßen, ein undefinierbarer, zusammengekauerter Körper. Dazu ein Kopf wie ein Totenschädel, angedeutete Brüste und lange Klauenfinger, die in die Leere des Raumes greifen. Was denken Sie, ist hier zu sehen? Ein riesenhaftes Insekt? Ein verzerrter menschlicher Körper? Oder gar eine Kombination aus beidem? Ohne Zweifel irritiert das Kunstwerk. Die "große Gottesanbeterin" vereint auf verstörende Art und Weise das Menschliche mit dem Animalischen. In seinen Grundzügen erscheint die Struktur des Körpers menschlich, wären da nicht die tierischen Details, die Klauen an den Händen, der schwanzartige Fortsatz des Rückens, die abgewinkelten und in Fühlern auslaufenden Beine. Als im September 1939 der zweite Weltkrieg ausbricht, macht Richier gerade Urlaub in der Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann beschließt sie dort zu bleiben. Als sie nach dem Ende des Krieges nach Paris zurückkehrt, beginnt sie in ihrem Werk das Animalische mit dem Menschlichen zu verschmelzen. Sie lässt die Grenzen zwischen Tier- und Menschenwelt verschwimmen, eine klare Trennung zwischen den beiden ist nicht mehr möglich. In ihrem gesamten Schaffen behandelt die Bildhauerin existenzielle Fragestellungen und Ängste. Sie stehen in Verbindung mit ihren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, dessen Schrecken sie aus dem Exil verfolgte. So entstehen surreale Arbeiten, die an Traum und Albtraum zugleich erinnern. Die "Große Gottesanbeterin" ist Ausdruck eben jenes Schaffens, in dem sich Leid und Gefahr ebenso wiederspiegeln wie Fruchtbarkeit und ein abgründiges Triebleben. Aus der Verbindung von menschlichem Antlitz, weiblichem Körper und tierischer Kraft schuf Richier so eine vieldeutige, ausdrucksstarke Figur. Die Frage, worum es sich hier tatsächlich handelt, ist so fast unmöglich zu beantworten. Und auch der Titel des Werks kann lediglich als Anhaltspunkt dienen.

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