Der fragmentierte Körper

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„Ein Verlust der Ganzheit, eine Zerrüttung der Verbindung, eine Zerstörung oder ein Zerfall". So beschreibt die US-amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin in ihrem wegweisenden Essay ‚The Body in Pieces‘ die Erfahrung des modernen Menschen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Das „Gefühl der sozialen, psychologischen, ja sogar metaphysischen Fragmentierung“, das angesichts epochaler gesellschaftlicher Umbrüche entsteht, führt zu neuen künstlerischen Umgangsweisen mit der menschlichen Gestalt. Ausgehend von der erlebten fragmentarischen Wirklichkeit wird auch der Körper nicht mehr in seiner Ganzheit, sondern aufgelöst in Teilen wahrgenommen und dargestellt.

Die Präsentation in diesem Kubus umfasst Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die sich seit dem frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart mit dem fragmentierten Körper auseinandersetzen. Diese reichen von kubistischen Zergliederungen bis hin zu technoiden Erweiterungen und komplexen Konstruktionen von Körperlichkeit. Das Fragment steht hier nicht nur für den Verlust eines Ganzen und die Verletzlichkeit des Körpers, sondern ebenso für die Möglichkeit, die Vielschichtigkeit von Identitäten zu thematisieren.

Die Formexperimente des Kubismus führen Jacques Lipchitz dazu, die Oberflächen seiner Figuren in scharfkantig-geometrische Flächen zu zerlegen. Der Torso, einst von Rodin als vollendetes Kunstwerk etabliert, dient Künstlern wie Wilhelm Lehmbruck und Alexander Archipenko als elementarste Form der Figur, um Ausdruck und Volumina des weiblichen Akts zu untersuchen. Hans Arp, Helga Föhl und Wilhelm Loth reduzieren den Torso wiederum bis an die Grenze zur Abstraktion.

Durch die Erfahrung zweier Weltkriege, die Millionen versehrter Menschen zurückließen, wird die Gebrechlichkeit des Körpers zu einem der wichtigsten Themen der figurativen Bildhauerei nach 1945. Der britische Künstler Henry Moore schafft mit seinem nur faustgroßen Werk ‚Head‘ ein eindringliches Bild des Menschen im Angesicht von Krieg und Zerstörung. Auch der Mannheimer Bildhauer Gustav Seitz erzählt in seinem Werk ‚Geschlagener Catcher‘ vom Leiden und der Ohnmacht des Menschen. Der Torso als Körperfragment wird hier zum Symbol für die Fragilität und Vergänglichkeit des Körpers.

Ein technoides, zukunftsgewandtes Bild des Menschen entwickelt wiederum Nam June Paik, indem er die Beziehung zwischen Körper und Technologie thematisiert: Ein monumentaler Kopf, zusammengesetzt aus elektronischen Geräten und Bildschirmen, verweist auf die prothetische Erweiterung und Hybridisierung des Körpers durch neue technologische Maschinen.

Das Motiv des fragmentierten Körpers wird in der zeitgenössischen Kunst verstärkt zur Neuformulierung von Körper- und Identitätserzählungen genutzt. Diamond Stingily verknüpft in ihrem Werk ‚Elephant Memory‘ die eigene Biografie mit der Geschichte der Sklaverei in den USA. Anys Reimann schafft mit ihren Collagen Bilder hybrider und fluider Identitäten, die sich starren Konstruktionen von Fremdzuschreibungen entziehen. Hier stellt die Fragmentierung keinen Verlust dar, sondern birgt vielmehr die Möglichkeit, die Pluralität von Erfahrungen in die Konstruktion des Selbst einfließen zu lassen.