Gemeinfrei
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Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas

)

Forme uniche della continuità nello spazio

Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum
Unique Forms of Continuity in Space
1913

Umberto Boccioni

(1882-1916)

Material / Technik
Bronze
Kategorie des Exponats
Skulptur
Gattung
Rundplastik
Abstrakte Skulptur
Beschriftung / Signatur
Signatur: Bez. auf dem Sockel vorne u.re. "U.BOCCIONI", hinten "FUSIONE ESEGUITA PER LA GALLERIA LA MEDUSA/ROMA SETTEMBRE 1972 6/8 FONDERIA FRANCESCO B."
Erwerbungsjahr
1986
Maße
116,60 cm x 41,60 cm x 89,00 cm
Standort

Hector-Bau > Ebene 0 > Eingangsfoyer

Einstieg

Schon im Titel dieser Plastik klingt der Anspruch auf einen Neubeginn an. Denn die »Einzigartigen Formen der Bewegung im Raum« zielen auf die Grundkonstanten der Bildhauerkunst.

Boccioni, eigentlich Maler, seit 1912 aber auch als Bildhauer aktiv, gehört zur Gruppe der italienischen Futuristen, die ein radikal modernes Lebensgefühl vertraten. Technik, Geschwindigkeit und Fortschritt standen im Zentrum ihrer Kunst, das Aufbegehren gegen das Alte und besonders die ästhetische Tradition waren für sie selbstverständlich.

Die energisch voranschreitende Figur – halb Mensch und halb Maschine – setzt dieses futuristische Programm beispielhaft um. Alle Körperteile sind in stark bewegte, abstrakte Elemente aufgelöst. Fließende Formen und Winkel suggerieren einen steten Wandel der Erscheinung – der Körper wirkt ganz auf Geschwindigkeit und Transformation ausgelegt, obwohl er als Plastik paradoxerweise völlig unbewegt ist. Mit dieser Arbeit hat Boccioni den Inbegriff der futuristischen Vision geschaffen und gleichzeitig versucht, mit der »mumifizierten Kunst« vergangener Epochen für immer zu brechen.

Hintergrund

Mit der Avantgardebewegung des Futurismus, die sich am 20. Februar 1909 mit dem vom italienischen Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) verfassten Gründungsmanifest ankündigte, ging auch ein neues Lebensgefühl einher, das die moderne Großstadt, die Geschwindigkeit und den Fortschritt verherrlichte. Als Ausdruck für eine technisch bestimmte, zukunftsorientierte Welt forderte der futuristische Maler und Bildhauer Umberto Boccioni deshalb, mit neuen Themen und ästhetischen Gesetzen eine radikale Erneuerung »der mumifizierten Kunst« herbeizuführen. „Die alten Mauern und alten Paläste, die alten Motive, die Erinnerungen ekeln mich an! […] Ich will das Neue, das Ausdrucksvolle, das Gewaltige!“, postulierte der Künstler, der die futuristischen Ideen zunächst auf die Malerei zu übertragen versuchte. Nachdem er 1912 an der ersten internationalen Ausstellung der Futuristen in Paris teilgenommen hatte, wandte sich der Künstler der Bildhauerei zu und formulierte ein eigenes Manifest zum Problem der Skulptur. Damit sowie mit seinem zwei Jahre später publizierten Grundlagenwerk zur futuristischen Plastik stellte er die Darstellung des tradierten Menschenbildes radikal in Frage.

In Anlehnung an die futuristischen Thesen realisierte Boccioni in den Jahren 1912/13 mit dem Motiv einer dynamisch vorwärts schreitenden Figur nicht nur geistig, sondern auch visuell den Entwurf für einen »neuen Menschen«. Aus dem Grundgedanken einer künstlerischen Durchdringung von Figur und Umgebung heraus entwickelten sich in einer Folge von vier Gipsplastiken die »Urformen der Bewegung im Raum«. In dieser letzten, so bezeichneten Version, die für die Geschichte der Skulptur im 20. Jahrhundert von programmatischer Bedeutung ist, gelangte der Bildhauer durch die forcierte Wiedergabe von Bewegungsabläufen zu einer architektonisch konstruierten Metamorphose von Mensch und Maschine. Bis auf die Beine, den Oberkörper und den Fortbewegungsmechanismus sind die einzelnen Teile des Körpers auf abstrakte Elemente, scharfe geometrische Formen und Winkel beschränkt. Der kantige Kopf der hybriden Figur ist durch eine Art Helm ersetzt und die übergroßen Rücken- und Wadenmuskeln, die sich in den Raum hinein auszudehnen scheinen, sind als metallische Flügel stilisiert.

Nicht nur durch den Akt des Vorwärtsschreitens, sondern auch durch das Wechselspiel von konvexen und konkaven Formen dringen der Raum und die Umwelt sowie ihre Atmosphäre in die Figur ein. Gemäß dem futuristischen Credo, dass ein Rennwagen schöner sei als die »Nike von Samothrake«, war Boccioni weniger an der Form an sich, als vielmehr an der Geschwindigkeit der Form interessiert. In der Darstellung der Transformation und simultanen Bewegung durch die Auflösung der dreidimensionalen Körperformen ebenso wie in der Verherrlichung der Maschinenwelt sind die »Urformen der Bewegung im Raum« nicht zuletzt auch zum künstlerischen Inbegriff der italienisch-faschistischen Zukunftsvisionen geworden. Darüber hinaus ist das Festhalten von Bewegungsabläufen in einem einzelnen Schrittmotiv, wie es der Franzose Etienne Marey (1830–1904) um 1882 in seinen damals berühmten Chronofotografien verwirklichte, mit einer kollektiven Bewegungsideologie am Beginn der Moderne verwandt. Im Kontext der geistigen und industriellen Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts schuf Boccioni so einen gültigen Ausdruck für das Menschenbild am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Einstieg

The title of this sculpture already announces the artist’s revolutionary intentions. The »Unique Forms of Continuity in Space« represents an assault on the fundamental constants of sculpture.

Boccioni, actually a painter but active as a sculptor since 1912, was a member of the group of Italian Futurists, who propagated a radically modern vision of life. Technology, speed, and progress were at the center of their art, with rebellion against the old, especially the aesthetic tradition, a matter of course.

The energetically striding figure—half human and half machine—provides an exemplary demonstration of this manifesto. All the body parts are dissolved into vigorously moving, abstract elements. Flowing forms and angles suggest a continually changing appearance—the body looks as if it is entirely geared to speed and transformation, although paradoxically, as a sculpture, it is completely immobile. With this work, Boccioni created the epitome of the Futurist vision, while simultaneously attempting to break with the “mummified art” of past epochs.

Hintergrund

Futurism was the avant-garde movement, which announced its presence on 20 February, 1909 in the founding manifesto by the Italian writer, Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944). It was accompanied by a new attitude towards life that glorified the modern metropolis, speed and progress. As the expression of a future-orientated world that was determined by technology, the Futurist painter and sculptor Umberto Boccioni demanded that new subjects and laws of aesthetics should bring about a radical renewal of “mummified art”. “The old walls and old palaces, the old subjects, the memories disgust me! […] I want what is new, expressive, grand!”, postulated the artist, who tried at first to transfer the ideas of Futurism to painting. After he had taken part in the first international exhibition of Futurists in Paris in 1912, he turned to sculpture and drew up his own manifesto on the problems of three-dimensional art. Here, and in his fundamental text on Futurist sculpture, which was published two years later, he radically questioned the representation of the traditional image of humanity.

Based on the Futurist precepts, during the years 1912/13, Boccioni created not only intellectually but also visually the design for a “New Man” in his depiction of a figure striding dynamically forward. Starting out from the basic idea of an artistic penetration of the figure and its surroundings, he developed in a series of four plaster sculptures the »Unique Forms of Continuity in Space«. In this last version, also labelled as such, which is of programmatic importance for the history of twentieth century sculpture, the artist arrived through the accelerated depiction of movement sequences at an architecturally constructed metamorphosis of man and machine. With the exception of the legs, the upper torso and the locomotion mechanism, the individual parts of the body are limited to abstract elements, acute geometrical forms and angles. The angular head of the hybrid creature has been replaced by a sort of helmet, and the over-sized back and leg muscles, which seem to expand out into space, are stylised as metallic wings.

Not only through the act of striding forward, but also through the alternation of convex and concave forms, space and the environment, as well as the atmosphere which they generate, penetrate the figure. In line with the Futurist credo that a racing car was more beautiful than the »Winged Victory of Samothrace«, Boccioni was interested less in form as such than in the speed of form. In its depiction of transformation and simultaneous movement through the dissolution of three-dimensional corporeal forms, as well as in its glorification of the world of machines, his »Unique Forms of Continuity in Space« ultimately became the artistic epitome of the Italian Fascist vision of the future. Indeed, the recording of movement processes in a single striding subject, as achieved in around 1882 by the French scientist and photographer Etienne Marey (1830–1904) in his then famous chronophotographs, was also related to a collective ideology of movement at the dawn of Modernism. Within the context of the intellectual and industrial changes that occurred during the first years of the twentieth century, Boccioni thus created a valid expression of an image of humanity on the eve of the First World War.

Creditline

Leihgabe des Landes Baden-Württemberg seit 1986

Inhalt und Themen
Mann
Futurismus
Dynamik
Bewegung
Geschwindigkeit
Maschine
Deformation
Gleichzeitigkeit
Einzelfigur
Mischwesen
Technik
gehend
glänzend (Oberfläche)
glatt (Oberfläche)
spitz
kantig
Verfremdung
Abstraktion
unregelmäßige Formen
Audio file

Das Gesicht ein Kreuz, der Unterkiefer ein Winkel, die linke Schulter strebt in Dreiecken nach vorne, auf dem rechten Oberschenkel eine Klinge. Alle Körperteile dieser weit ausschreitenden Figur sind in abstrakte Elemente aufgelöst: Flügelartige Fersen, Waden wie Wellen, Hinterteile in Tropfenform. Die Übergänge dazwischen sind fließend. Auf Verwandlung wirkt dieser Körper ausgelegt, auf Dynamik. "Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum" nennt der italienische Maler und Bildhauer Umberto Boccioni diese Plastik, die er 1913 schafft. Der aus Kalabrien stammende Maler gehört seit 1910 zu den Futuristen, einer Gruppe um den italienischen Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti. Die Futuristen vertreten ein radikal modernes, fortschritt- und technikverliebtes, ja sogar gewaltbereites Lebensgefühl und verachten die überkommenen Ideale von Kunst und Kultur, so auch Boccioni: "Im Schnittpunkt der Flächen eines Buches und den Ecken eines Tisches, in den geraden Linien eines Streichholzes (…) sind mehr Wahrheiten enthalten sind als in allen Muskelschwellungen, in allen Brüsten und allen Schenkeln von Helden und Venusbildern, welche die unheilbare Dummheit der zeitgenössischen Bildhauer entzücken!", höhnt er. Ihn faszinieren die Schönheit von Geschwindigkeit, die Ästhetik technischer Objekte, der industrielle Fortschritt. Doch wie die Bewegung eines Menschen im Raum sichtbar machen? Boccioni lässt sich von Fotografien anregen, von Serien, die Bewegungsabläufe festhalten, der jüngst erfundenen Chronofotografie. So bringen seine "Forme uniche della continuità nello spazio" Raum, Zeit, Geschwindigkeit, sich stetig verändernde Bewegung und den technischen Fortschritt gleichermaßen zum Ausdruck und schaffen eine Art Maschinenmenschen.

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