© VG Bild-Kunst, Bonn 2018
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Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas

)

Man in a Deck Chair Drinking

Trinkender Mann in einem Deckstuhl
1967

George Segal

(1924-2000)

Material / Technik
Gips
Metall
Glas
Kategorie des Exponats
Skulptur
Gattung
Installation
Erwerbungsjahr
1971
Maße
107,00 cm x 66,20 cm x 107,00 cm
Standort

nicht ausgestellt

Einstieg

1961 beginnt George Segal die Körperteile von Familienmitgliedern (später auch von Freunden und Nachbarn) mithilfe von in Gips getränkten Mullbinden abzuformen. In einem zweiten Schritt setzt er die so gewonnenen Hohlformen zu Figuren zusammen.

Die Körper dieser Figuren wirken vertraut und gespenstisch zugleich: Einerseits scheinen sie lebensnah und voller Präsenz, andererseits fremd und erstarrt. Das Weiß der Mullbinden erzeugt den Eindruck, als hätten wir nicht Menschen, sondern Geister vor Augen. Segal, der eigentlich Maler war und sich erst später der Bildhauerei widmete, stattet seine Figuren häufig mit realen Objekten aus oder bettet sie in größere Szenen ein, die er als »assembled environments« bezeichnete.

Wie andere Künstler der amerikanischen Pop-Art wendet er sich damit der Alltagswelt seiner Modelle zu, ohne sich jedoch auf Warenwelt, Massenmedien und Konsum zu konzentrieren. Für ihn steht vielmehr der Mensch im Vordergrund, häufig vereinzelt und wie der »Trinkende Mann im Deckstuhl« auf eine banale Alltagshandlung konzentriert, die ihm eine spürbare Melancholie verleiht.

Hintergrund

Im Rückblick auf seine Studienzeit an der New York University fasste George Segal einmal zusammen: „Man verlangte von mir, Bilder der realen Welt zu ignorieren.“ Einerseits begeisterte sich der junge Student für den Abstrakten Expressionismus, der in den späten 1940er Jahren die Lehre an der Hochschule dominierte. Andererseits fühlte Segal, dass diese Richtung mit der Wirklichkeit des täglichen Lebens für ihn Wesentliches ausklammerte. Wie so viele Künstler seiner Generation rebellierte daher auch der Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer gegen das damals vorherrschende Diktat der Gegenstandslosigkeit. Und auch ihm ging es ab Mitte der 1950er Jahre vor allem darum, neue Ausdrucksformen für das Banale der Gegenwart zu finden und die Kunst im Alltag zu verankern. Nachdem Segal zunächst mit Allan Kaprow (1927–2006) Happenings veranstaltet hatte, begann zum Ende des Jahrzehnts das Environment als Ausdrucksform sein Werk zu dominieren. Mit realen Gebrauchsgegenständen, angefangen von Stühlen bis hin zu ganzen Ladeneinrichtungen, stellte er Situationen des amerikanischen Alltags nach. Im Gegensatz zu vielen Kollegen der Pop Art beschränkte sich Segal in diesen Momentaufnahmen der eigenen Zeit und Umwelt aber nicht auf ein kritisches Hinterfragen der bunten Warenwelt, die immer größeren Einfluss auf die entstehende Konsumgesellschaft ausübte.

Den Mittelpunkt von Segals Environments beansprucht stets der Mensch, den der Künstler durch die Materialwahl deutlich hervorhob. Während die im Sinne des Readymade verwendeten Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände einen Ausschnitt der Wirklichkeit vorgeben, treten die in dieser Scheinwelt handelnden Akteure dagegen als Gipsfiguren auf. Dieses Wechselspiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen betrieb Segal erstmals um 1958, als er mit Drahtgeflecht, Jute und Gips seine frühen, noch grob gearbeiteten Menschendarstellungen schuf. Wenig später hatte er seine Technik bereits verfeinert, indem er mittels gipsgetränkter Bandagen Abformungen von lebenden Modellen anfertigte. Die so gewonnenen Schalenformen goss der Künstler wiederum mit Gips aus und setzte anschließend die einzelnen Teilstücke zu einer großen Positivform zusammen. Diese zeigt alle bei der Abformung vorgenommenen Bearbeitungsspuren und wurde von Segal bewusst nicht weiter ausgeführt oder farbig gefasst. Wie lebende Mumien wirken daher die oft mitten in einer Bewegung festgehaltenen Figuren. Aufgrund der undeutlichen Wiedergabe ihrer Körperformen und Gesichtszüge sowie durch ihre weiße Materialität stehen sie in starkem Gegensatz zur Lebensnähe der eingenommenen Haltung und der real erscheinenden Umgebung.

Nach diesem Muster schuf Segal auch »Trinkender Mann in einem Deckstuhl«. Die Gipsabformung eines Sitzenden platzierte der Künstler hier auf einem einfachen Klappstuhl mit Armlehnen. Das linke Bein lässig über das rechte gelegt, hält der ältere, leicht untersetzte Mann in seiner Linken ein Trinkglas. Trotz der Undeutlichkeit seiner Gesichtszüge scheint sein Blick starr ins Leere gerichtet zu sein. Auch diese Plastik irritiert gerade durch das unvermittelte Nebeneinander von realem Gebrauchsgegenstand und dem Abbild des Menschen, das durch die Materialität des Gipses verschleiert ist. Wie bei vielen Arbeiten Segals lenkt diese teilweise Verfremdung der Wirklichkeit auch hier den Blick des Betrachters auf die gewöhnlich nicht weiter beachtete emotionale Einsamkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft. Trotz aller Lebensnähe bleibt der Sitzende letztlich in seiner Isolation gefangen und für den Betrachter unerreichbar.

Einstieg

In 1961 George Segal began making casts of the body parts of family members (later of friends and neighbors), using bandages soaked in plaster. In a second step, he assembled the hollow forms produced using this method to create figures.

The bodies of these figures appear simultaneously familiar and ghostly: On the one hand, they appear realistic and full of presence, on the other, alien and rigid, with the white of the bandages creating the impression that we are looking at ghosts, not people. Segal, who was actually a painter, turning to sculpture later in life, often equipped his figures with real objects or embedded them in larger scenes he called “assembled environments.”

Like other artists of the American Pop Art movement, he focused on the everyday world of his models, but without concentrating on commercial products, the mass media, or consumerism. For Segal, the focus is on the human individual, frequently isolated, and like the »Man in a Deck Chair Drinking«, absorbed in a banal everyday activity which lends his figures a tangible melancholy.

Hintergrund

Thinking back to his time as a student at New York University, George Segal recalled: “I was expected to ignore pictures of the real world.” On the one hand, the young student was enthusiastic about Abstract Expressionism, which dominated teaching at the university in the late 1940s. On the other hand, Segal felt that, in the face of the reality of everyday life, this movement excluded elements that were important to him. And so, like so many of the artists of his generation, this son of Polish Jewish immigrants rebelled against what was at the time the primacy of abstraction. And he, too, from the middle of the 1950s onwards, focused on finding new forms of expression for the banality of the present day and on rooting art in the mundane. After Segal had staged happenings together with Allan Kaprow (1927–2006), towards the end of the decade environments began to dominate his oeuvre as a form of expression. He recreated situations from American workaday life using real everyday objects, from chairs to entire shop furnishings. In contrast to many of his Pop Art colleagues, in these snapshots of his own time and surroundings, Segal did not limit himself to a critical questioning of the colourful world of commodities, which had an increasingly powerful influence on the developing consumer society.

Humans, whom the artist emphasised through his choice of material, are always at the centre of Segal’s environments. While the utility objects and furnishings used as ready-mades simulate a segment of reality, the actors in this illusory world present themselves as plaster figures. Segal first set up this interplay of various levels of reality in 1958, when he created his early, still roughly fashioned representations of people using mesh wire, jute and plaster. It was not long before he had refined his technique by making casts of living models using plaster-soaked bandages. The artist then poured plaster into the moulds made in this way and finally assembled the individual parts to create large positive forms. These reveal all of the traces of the moulding process, and Segal consciously chose not to refine them and not to add colour. The figures, often captured in the middle of a movement, therefore have the appearance of mummies. As a result of the unclear reproduction of their physical shape and facial features and their white materiality, they stand in stark contrast to the closeness to life of the poses adopted and their seemingly real environments.

Segal created »Man in a Deck Chair Drinking« according to this model. Here, the artist placed the plaster cast of a seated man on a simple deckchair with armrests. The left leg is casually draped over the right leg and the older, slightly stocky man holds a glass in his left hand. Despite the lack of clarity in his facial features, it seems as if he were gazing blindly into empty space. This sculpture is unsettling precisely because of the unexpected juxtaposition of real articles of daily use and the representation of a human being, veiled by the materiality of the plaster. As in many of Segal’s works, this partial de-familiarisation of reality guides the viewer’s gaze towards the emotional loneliness of humankind in modern society, which is often overlooked. The seated man remains a prisoner in his isolation, and remains distant from the viewer, despite his proximity to reality.

Creditline

Leihgabe des Landes Baden-Württemberg seit 1971

Inhalt und Themen
Mann
Stuhl
Gläser
Melancholie
pop art Pop-Art
Konsum
Weiß
Kleidung
Anzug
Einzelfigur
sitzend
rau (Oberfläche)
stumpf (Oberfläche)
Audio file

Der Mensch als Hülle, ohne Inhalt, ein leerer Abguss von Formen. So sitzt er hier im Klappstuhl. Äußerlich ist alles dran, doch innen ist nichts. Kein Bier in seinem Glas, keine Innereien im Bauch, kein Leben im Körper. Eine gespenstische Figur ganz in Weiß, eingefangen in einer alltäglichen, ja banalen Situation: sitzend, trinkend, starrend. 1961 beginnt der US-amerikanische Pop-Art-Künstler George Segal, die Körperteile von Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn mit Mullbinden und Gips abzuformen. Die so gewonnenen "Einzelteile" setzt er anschließend zu geisterhaften Figuren wie dem "Trinkenden Mann" zusammen, die er häufig in eine Art Bühnenbild integriert. Auf diese Weise entstehen befremdliche und doch vertraute Alltagsszenen. So unterstreicht der Künstler die Doppeldeutigkeit der abgebildeten Menschen: Einerseits scheinen sie lebensnah und voller Präsenz. Würden Sie sich nicht zu dem Mann gesellen, der Ihnen dort gegenübersitzt? Andererseits wirkt der Mann ja völlig fremd und erstarrt. Denn irgendetwas hält Sie dann doch davon ab, richtig? Egal ob ein Fensterputzer bei der Arbeit, ein sonnenbadendes Paar, oder eben der Trinkende Mann in seinem Klappstuhl - die Banalität des Alltags, der Segal nachspürt, verleiht seinen Werken eine greifbare Melancholie.

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