Kurator Sebastian Schneider zum Werk „Brakfesten“ von Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne

Nahezu 200 Werke zählt die Ausstellung 1,5 Grad. Eines davon stellt der Kurator Sebastian Schneider genauer vor: Brakfesten / La Grande Bouffe von Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne. Hier erläutert er, was ihn an dem Werk begeistert und warum es für die Ausstellung ausgewählt wurde.

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Abb. 1 Anne Duk Hee Jordan & Pauline Doutreluingne, Brakfesten / La Grande Bouffe, 2022, Video (Farbe, Ton), 28:14 min, Video

 

Ein fataler Kreislauf

Ulmen waren in Europa einst weit verbreitete Bäume. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ihr Bestand aber dramatisch reduziert. Grund dafür ist ein Pilz, der das Gefäßsystem des Baumes angreift und so stark schädigt, dass er an Wassermangel stirbt. Dieser Pilz wird vor allem von einem Käfer übertragen, der sich mit Vorliebe in der Rinde von Ulmen einnistet. Dort wird er von den Sporen des Pilzes kontaminiert und überträgt diese auf gesunde Bäume. Ein befallener Baum muss gefällt und aus dem Wald entfernt werden, sonst droht sich die Ulmenkrankheit weiter zu verbreiten.

Das Ulmensterben bildet den Ausgangspunkt von Anne Duk Hee Jordans und Pauline Doutreluingnes Kunstwerk Brakfesten / La Grande Bouffe. Die beiden Künstlerinnen stießen in einem Naturschutzgebiet auf der schwedischen Insel Gotland auf eine gefällte Ulme. Der auf dem Waldboden liegende Baum war für sie ein toter Körper; ein Zeichen für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Ökosystem. Brakfesten / La Grande Bouffe entstand aus dem Wunsch, die Leerstelle, die der Tod des Baumes hinterlässt, nicht als Endpunkt zu betrachten. Vielmehr untersuchen Jordan und Doutreluingne mit ihrem Werk die beeindruckende Fähigkeit eines Ökosystems, sich zu regenerieren und aus abgestorbener Materie neues Leben zu erschaffen.

Lebendige Skulpturen und schleimige Würmer

Für ihre Skulptur verwendeten Jordan und Doutreluingne das Holz des toten Baumes aus dem Wald. Sie ordneten es in einer Form an, die den Fraßgängen nachempfunden ist, die der Käfer typischerweise in der Rinde der Ulmen hinterlässt. Dann höhlten sie die Stämme und Äste aus und befüllten sie mit Erde oder legten darin Wasserbassins an. Auf diese Weise schufen sie ideale Bedingungen, um Insekten und andere Tiere anzulocken. Es entstand eine lebendige Skulptur, die sie um Zeichnungen, Vogelhäuser und zwei überdimensionierte Hör-Trichter ergänzten. Letztere ermöglicht es den Besucher*innen des Naturschutzgebiets, die Geräusche des Waldes genau wahrzunehmen.

Das Video, das wir in der Ausstellung 1,5 Grad zeigen, ist ein weiterer Bestandteil von Brakfesten / La Grand Bouffe. Darin taucht die gefällte Ulme als wiederkehrendes Motiv auf. Man sieht den toten, auf dem Waldboden liegenden Baum, aber auch seine Verwandlung zu einem von Tieren bewohnten Kunstwerk. Die dokumentarischen Bilder dienen als Klammer, um die Betrachter*innen in eine Welt einzuführen, die dem menschlichen Auge für gewöhnlich verborgen bleibt: Insekten, wie sie um Nahrung kämpfen, wie sie sich fortpflanzen, sterben und zersetzt werden.

Das alles wird in der Kunsthalle auf die gesamte Fläche einer Wand projiziert. Vor dem eigenen Auge erscheinen übergroße Horden von Ameisen, schleimige Würmer und Larven (Abb. 1). Es fällt schwer, sich dem Ekel zu erwehren, den diese Bilder hervorrufen. Jordan und Doutreluingne verstärken diese Wirkung noch durch den Sound, mit dem sie die Bilder untermalen. Paradoxerweise führt dies trotzdem nicht dazu, dass man sich von dem Video abwendet.

Mir gefällt, dass die Künstlerinnen Natur hier als etwas vorstellen, das gängigen Vorstellungen von Reinheit, Klarheit und Schönheit nicht entspricht. Viele der gezeigten Tierkörper sind formlos (und damit auch nicht „formschön“). Sie sind glitschig und nass und bewegen sich auf eigentümliche Art und Weise fort. In einer Vielzahl der Szenen sieht man in Nahaufnahme, wie sie kopulieren, nur um sich dann gegenseitig anzugreifen. Es ist dieser immerwährende, derbe Prozess, der dem Werk seinen Titel verleiht: La Grande Bouffe, das große Fressen.(1)

Was hat das mit 1,5 Grad zu tun?

Mittlerweile weiß man, dass der Pilz, der das Ulmensterben auslöst, ursprünglich aus Asien stammt. Durch den von den Niederlanden aus organisierten Handel mit Furnierholz gelangte er vor etwa 100 Jahren nach Europa. Wie so oft sind es also globale Handelsströme, die das ökologische Gleichgewicht beeinflussen und nachhaltig schädigen. In dieser Lesart ist Brakfesten / La Grande Bouffe anschlussfähig an das Thema unserer Ausstellung, in der wir das Augenmerk auf die Verflechtungen von menschlichem Handeln und Ökologie legen.

Darüber hinaus ist es ein formaler Aspekt, der die Auswahl des Werks für 1,5 Grad erklärt. Um die Vorgänge in der Welt der Insekten und Pilze sichtbar zu machen, nutzen Jordan und Doutreluingne die technischen Möglichkeiten aus, die Kameras und digitale Bildbearbeitungsprogramme bereit halten. Das Zoomen und das Zeitraffen sind Stilmittel, die das Video über seinen gesamten Verlauf hinweg bestimmen. Beide Verfahren dienen hier als Methode, um den Betrachter*innen etwas zu vermitteln, das ansonsten nicht wahrnehmbar wäre. Ich denke, dass in diesem Verfahren ein grundsätzliches Misstrauen zum Ausdruck gebracht wird. Ein Misstrauen, das sich gegen einen Blick auf die Welt richtet, der einzig und allein der menschlichen Perspektive verpflichtet ist. Eine Vielzahl zeitgenössischer Kunstproduktionen spürt Möglichkeiten nach, um Bewusstsein und Sensibilität für nicht-menschliches Leben zu schaffen. Hier sind es technische Werkzeuge, mit deren Hilfe dieser Perspektivwechsel vorgenommen wird. Es ist ein Spiel mit Skalen, durch das Jordan und Doutreluingne etwas an uns heranrücken, das wir uns für gewöhnlich vom Leib halten, auch wenn es mehr mit uns zu tun hat, als uns lieb ist.


Fußnote

(1)Der Titel des Werks zitiert den Titel des französischen Film La Grand Bouffe (1973) von Marco Ferreri. Er erzählt von einer Gruppe von Freunden, die gemeinsam beschließt, sich zu Tode zu essen. Die derbe Darstellung von Essen, Verdauung und Sex brachte dem Film in den 1970er-Jahren einiges an Kritik ein. In Schweden erschien der Film unter dem Titel Brakfesten (La Grande Bouffe).

ZUR AUSSTELLUNG "1,5 GRAD"

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