Eine Annäherung aus judaistischer Perspektive

Wie wird einer der berühmtesten deutschen Künstler in der aktuellen Forschung behandelt? Gibt es zum Werk Anselm Kiefers überhaupt noch neue Ansätze oder gar offene Fragen, die es zu diskutieren gibt? Diesen Fragen stellte sich die Kunsthalle Mannheim anlässlich der Ausstellung „Anselm Kiefer“ im Jahr 2021 in einem Online-Symposium mit fünf Vorträgen von Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen. Einzelne Beiträge zum Symposium veröffentlichen wir nun in regelmäßigen Abständen auf unserem Blog.

Ein Gastbeitrag von Esther Graf

Kein anderer jüdischer Gelehrter der Moderne ist mit der Kabbala so fest verwoben wie Gershom Sholem. Der 1897 in Berlin geborene Religionshistoriker gilt als ihr Wiederentdecker und bedeutendster Erforscher. Sholem etablierte nach seiner Auswanderung nach Palästina jüdische Mystik an der am 1. April 1925 eröffneten Hebräischen Universität in Jerusalem. Den 1933 eigens eingerichteten Lehrstuhl hatte er bis zu seinem Tod 1982 inne.

Als Anselm Kiefer nach Jerusalem reist und auf das Werk von Sholem stößt, ist dieser erst ein Jahr verstorben. Unmittelbar scheint er sich von der Darstellung und historische Aufarbeitung der jüdischen Mystik angesprochen, um nicht zusagen, angezogen gefühlt zu haben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen deutschen Vergangenheit treibt ihn als Künstler an, philosophische und literarische Referenzen dienen ihm stets als Ausgangspunkt für sein Schaffen. L’art pour l’art ist ihm fremd. Er will aufklären, mahnen, gedenken und bekennt sich zur gesellschaftlichen Verantwortung von Kunst: „Ich glaube, daß Kunst Verantwortung übernehmen muss, doch sollte sie nicht aufhören, Kunst zu sein. […] Meine Inhalte sind vielleicht nicht zeitgenössisch, aber politisch.“(1)

Anselm Kiefer scheint in Gershom Sholem einen Seelenverwandten gefunden zu haben, verfolgte der Wissenschaftler doch mit der deutschen Übersetzung seines Buches über die jüdische Mystik ähnliche Ziele wie er. Wie Sholem im Vorwort verlauten lässt, wollte er seinen Beitrag zur „Versöhnung“ zwischen deutschen Tätern und europäischen Juden leisten. Er schreibt: „Zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk ist in den Jahren der Katastrophe und Vernichtung ein Abgrund entstanden, über dessen im vollen Sinn des Wortes blutigen Ernst sich hinwegtäuschen zu wollen vergeblich wäre. […] Ob es wissenschaftlicher Erkenntnis und historischer Einsicht vergönnt sein mag, etwas für die Überbrückung dieses Abgrundes zu tun, ist schwer zu ermessen. Dennoch glaube ich, dass eine tiefergreifende Diskussion bedeutender Phänomene der jüdischen Geschichte und Religion, wie sie in dem vorliegenden Buch versucht worden ist, auch gerade in dieser Situation von Wichtigkeit werden kann. Ein jüdischer Autor kann von sich aus gewiß nicht viel tun, um diese Situation zu ändern, aber er kann Materialien und Instrumente liefern, ja vielleicht auch Einsichten, die bei einer wieder möglich werdenden Aussprache belangvoll werden könnten.“(2)

Kiefer will mit seinen Werken kabbalistischen Inhalts(3), Akteur einer „möglich werdenden Aussprache“ sein und als Künstler seinen gesellschaftspolitischen Beitrag leisten. So wie die Kabbala versucht, die durch die Polarität des Monotheismus entstandene Kluft zwischen Mensch und G’tt zu überwinden, ist es Anselm Kiefers Absicht, mit seiner Kunst den durch die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus geschlagenen Abgrund zu überwinden und nach „Heilung“ zu streben.

Für die Kabbala ist die ganze Welt ein Corpus Symbolicum, für Anselm Kiefer ist es die Kunst: von ihm verwendete Materialien (Farbpigmente, Asche, Textilien etc.) bedeuten für sich genommen nichts; erst durch ihr kreatives Zusammenspiel fördern sie tiefere Bedeutungsebenen zutage. Gershom Sholem schreibt: „Das Unendliche leuchtet durch das Endliche und macht es mehr und nicht weniger wirklich.“(4) Diese Aussage trifft auch auf Kiefers Werke wie „Sephirot“ oder „Shebirat Ha Kelim“ zu.

Innerhalb der Kabbala sind es vor allem die Begriffe der Schewirat haKelim (Zerbrechen der Gefäße) und des Tikkun (Reparieren), die sich Kiefer aneignet und in seinem Oeuvre bildhaften Ausdruck verleiht. Schewirat haKelim(5) bezeichnet einen Zerstörungsprozess eines Teils jener Gefäße, die das g’ttliche Licht auffangen sollen. Während man versuchte, sie von den „Kräften des Bösen“ zu reinigen, zerbrachen sie. In der mystischen Vorstellung ist die Menschheit dazu angehalten G’tt dabei zu unterstützen, die Gefäße zu reparieren (Tikkun), um den Idealzustand wiederherzustellen.

Anselm Kiefers „emotionale Zerrissenheit kultureller Identität angesichts der Verstrickung in historische Schuld“(6) ist für ihn kollektives Erbe und kein rein persönliches. Für die emotionale Zerrissenheit findet Kiefer in der kabbalistischen Vorstellung der Schewirat haKelim (Zerbrechen der Gefäße) eine Entsprechung, die er künstlerisch aufgreift. So wie die Gefäße wieder repariert werden sollen, um die g’ttlichen Funken in sich aufzunehmen, soll auch die emotionale Zerrissenheit durch Auseinandersetzung mit der Schoa/der eigenen deutschen Vergangenheit überwunden werden. Gemäß seiner Vorstellung- so wie ich sie verstehe- kann also jeder Mensch im Sinne des Tikkun haOlam (Reparieren der Welt) seinen Beitrag leisten, um aus der Vergangenheit zu lernen und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.


Fußnoten

(1)Zitiert nach Sabine Schütz: Anselm Kiefer – Geschichte als Material. Arbeiten 1969–1983. DuMont, Köln 1999, S. 39.
(2)Gershom Sholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe, Zürich 1957, S. VIII.
(3)Kiefer bezieht sich dabei auf die Kabbala des Isaak Luria (1534-1572). Seine Lehre lässt sich zusammenfassen mit: mystische Deutung von Exil und Erlösung. Ab ca. 1625 errang sie innerhalb des Judentums den Status der anerkannten religiösen Mystik. Ihr Erfolg lag darin, dass sie jedem Juden eine bedeutungsvolle Rolle in der Erreichung des messianischen Zeitalters zukommen ließ. Lurias Lehre war die letzte Bewegung innerhalb des Judentums, die sich noch in allen Teilen des Volkes und in allen Ländern der Diaspora durchsetzen konnte und in Bräuchen und Liturgie Niederschlag fand. Vgl. Sholem, S. 312ff.
(4)Sholem, S. 30.
(5)Die Schreibweise hebräischer Wörter im Deutschen ist nicht standardisiert, weshalb in der Literatur und Kiefers Werk unterschiedliche Versionen zu finden sind.
(6)Sebastian Baden in: Anselm Kiefer, bis 06.06.21, Kunsthalle Mannheim, Begleitbroschüre zur Ausstellung, S. 5.

Zur Ausstellung "Anselm Kiefer"

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