Wie andere historische Künstlervereinigungen war auch die 1948 gegründete Künstlergruppe CoBrA einerseits auf der Suche nach einer neuen Sprache, neuen Vorbildern und Quellen der Inspiration, andererseits grenzte sie sich deutlich von Positionen ab, die künstlerisch wie gesellschaftlich als konventionell und überholt galten. Als zentral erwies sich die Erfahrung des Krieges und damit einhergehend das Fehlen einer sich frei entwickelnden Kunstszene. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es den Künstler*innen um Freiheit, Revolution und Distanz zu künstlerischen wie gesellschaftlichen Konventionen ging, verbunden immer wieder mit dem Bezug zur Kindheit. So schrieb Karel Appel rückblickend: „… die Cobra-Gruppe begann neu, und als erstes warf sie alles über Bord, was wir kannten, und begann von vorn wie ein Kind – frisch und neu.“ Als Vorbilder oder künstlerische Bezugspunkte spielten Pablo Picasso, Wassily Kandinsky, Joan Miró und vor allem Paul Klee eine wichtige Rolle. Verbunden mit diesen Künstlern war die Vorbildhaftigkeit der Kunst von Kindern, die Inspiration durch kindliches Gestalten. Im Kern bestand bei aller Individualität die Botschaft der Gruppe in der Betonung des existenziellen Verlangens eines jeden, sich kreativ zu äußern, eines Verlangens, dem durch keine Normen und Regeln Beschränkung auferlegt werden durfte. Was sie formal verband, war eine expressive spontane Malweise und die Freude an reinen Farben. Fantastische Mischwesen aus Mensch, Tier und Pflanze fungierten als symbolischer Ausdruck für die Sehnsucht nach naturhaften Ursprüngen, nach dem Unverfälschten und Unverbildeten. Bewusst naiv gestaltete und stilisierte Tiermotive, aber auch Mutter und Kind-Darstellungen gehörten so zum charakteristischen Motivkreis der CoBrA-Künstler*innen. Im Protest gegen die zeitgenössische Gesellschaft und ihre herrschenden Mächte diente das Kind, das noch nicht verantwortlich an dieser Gesellschaft beteiligt ist, als die Verkörperung des unschuldigen und unabhängigen Außenseiters.

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Ausstellungsansichten "Becoming CoBrA", Werke von Karel Appel und Constant, Fotos, 2023 © Kunsthalle Mannheim

 

Paul Klee wurde zum wichtigen Vorbild. Schon früh hatte sich dieser für die Bildgestaltung von Kindern interessiert und strebte in seinen Arbeiten eine Synthese zwischen bewusst gemachter Bildgestaltung und einem ursprünglichen elementaren, spontanen, kindlichen Ausdruckswillen an. Ganz im Sinne von Pierre Alechinskys Ausspruch: „CoBrA ist eine Kunstform, die die Kindheit anstrebt… mit den Mitteln, die Erwachsenen zur Verfügung stehen.“ 1902 entdeckte Klee seine eigenen Kinderzeichnungen wieder und als er 1911 sein Werkverzeichnis begann, nahm er diese als vollwertige Werke mit auf. In Klees Werk ist besonders der Übermut von Kindern wichtig, die spielerisch die Welt erforschen und mit wagemutigen Kapriolen versuchen, die Schwerkraft des Realen zu überwinden.

Kinderzeichnungen als Quelle der Inspiration

Die Beschäftigung mit der Kunst von Kindern ist kein Phänomen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Schon Caspar David Friedrich sah das Kind als Prototypen des Künstlers an. Um die Wende zum 20. Jahrhundert nahm die Auseinandersetzung mit der Kunst von Kindern jedoch beträchtlich zu und schlug sich in Ausstellungen und Publikationen nieder. So begannen 1908 auch Wassily Kandinsky und Gabriele Münter Kinderzeichnungen zu sammeln und sich in ihrer Ausdrucksweise an deren Sprache zu orientieren. Die Beschäftigung damit lag geradezu in der Luft, stand sie doch für die Sehnsucht nach unverfälschter Kunstäußerung, jenseits jeder bürgerlichen Erwartung, ohne jede prägende Vorbildung. Auch in der Kunsthalle Mannheim sollte das Thema eine wichtige Rolle spielen. 1921 wurde hier die von Gustav Friedrich Hartlaub kuratierte Ausstellung „Der Genius im Kinde“ gezeigt. Anliegen war es, die Reinheit und Unbefangenheit der schöpferischen Kraft von Kindern einer durch Krieg, Mechanisierung und Kapitalismus verrohten Welt als Heilmittel entgegenzusetzen. 1922 erschien Hartlaubs gleichnamiges Buch, in dem er der naiven Schöpferkraft des Kindes programmatischen Anstrich verlieh. Doch Hartlaub wollte auch die wissenschaftliche Forschung zur Entwicklung kindlicher Gestaltung befördern und institutionalisieren. 1927 gründete er das „Internationale Archiv für Jugendzeichnungen“, das in den folgenden Jahren wuchs und insgesamt schließlich ca. 42.000 Blatt umfasste. Das Interesse an der Kinderkunst erwies sich somit als Kennzeichen der Avantgarde, auch der künftigen CoBrA-Vertreter*innen. Für die Künstler*innen, die sich seit 1941 um die dänische Zeitschrift Helhesten versammelten (Ejler Bille, Carl-Henning Pedersen, Henry Heerup, Asger Jorn, Else Alfelt), wurden Kinderzeichnungen zu einer wichtigen und vorbildhaften Inspirationsquelle. Bereits seit 1941 wurden in Helhesten, wie später auch in den CoBrA-Heften, Kinderzeichnungen neben Felszeichnungen, sino-sibirischen Bronzen, Wandmalereien, grönländischen Geisterbeschwörungsmasken und eigenen Werken der Künstler*innen abgebildet.

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Ausstellungsansichten "Becoming CoBrA", Werke von Karel Appel, Fotos, 2023 © Kunsthalle Mannheim

 

In den Niederlanden wurde die Beschäftigung mit der Kunst von Kindern wesentlich über Willem Sandberg initiiert. 1946 richtete er ein Kinderatelier im Amsterdamer Stedelijk Museum ein, dem er als Direktor vorstand, zwei Jahre später zeigte er im Dezember 1948 eine Übersichtsausstellung von Kinderkunst und nahm einige der Arbeiten in die Museumssammlung auf. Seit dieser Zeit sollten sich die Holländer Appel, Constant und Corneille intensiv mit Kinderzeichnungen beschäftigen. Appel etwa malte eine ganze Serie zum Motiv der fragenden oder bettelnden Kinder. Die Werke zeigten nicht nur eine kindlich expressive Formensprache, die Kinder selbst wurden zum Bildmotiv. Inhaltlich ging die Thematik auf Appels Erinnerung an die hungernden Kinder zurück, die er während einer Deutschland-Reise in der unmittelbaren Nachkriegszeit gesehen hatte. „Kinder weisen den Weg“: Unter dieses Motto stellten Appel, Constant, Corneille und Anton Rooskens ihren Beitrag zur Ausstellung „Neue Strömungen in der bildenden Kunst“, die 1950 im Stedelijk Museum zu sehen war. Sie machten zur Bedingung, dass ihre Werke jeweils von einer Kinderzeichnung begleitet wurde und betonten damit die Vorbildhaftigkeit der Kinderkunst. Die Auseinandersetzung mit der Kunst von Kindern hatte auch bei den CoBrA-Künstler*innen, ähnlich wie bei Hartlaub, autobiografische Gründe. Jorn, aber auch Brands, später auch Pierre Alechinsky kamen durch ihre eigenen Kinder in Berührung mit der kindlichen Kreativität, sie sammelten deren Arbeiten und es kam nicht zuletzt auch zur Zusammenarbeit einiger Künstler*innen mit den eigenen Kindern, etwa 1949 in Bregnerød. Dort trafen sich die Cobra-Mitglieder in einem Wochenendhaus bei Kopenhagen und bemalten gemeinsam mit ihren Frauen und Kindern die Wände des Hauses. So gestaltete etwa Jorns siebenjähriger Sohn Klaus eine Tür in der Wand, an der Pedersen arbeitete. Aus vielen Zitaten spricht schließlich die Sehnsucht nach der Kindheit. „Es dauert Jahre, bis man das Kind in sich selbst findet“, erklärte Alechinsky. Geschätzt wurden die ungezwungene Ausdrucksfähigkeit, die individuelle Fantasie, die Freiheit und kindliche Freude am Gestalten, der Sinn für Materialien, aber auch für Fundstücke, aus denen Assemblagen gebaut wurden. So stellte Henry Heerup, der Verfechter eines rustikalen Antispezialismus, fest: „Die Kinder haben schon immer Skulpturen aus Resten gemacht… Jeder kann seine eigene Abfallskulptur machen. Fangt an!“

Zur Ausstellung "BECOMING CoBrA"

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