Ein Beitrag von Anja Heitzer

Sowohl Museen als auch Theater sind Orte der Sichtbarmachung. Das Museum stellt als White Cube, als weißer, unangetasteter Raum, Kunst aus. Das Theater dient als Black Box, als schwarzer Container, der mit Geschichten gefüllt werden kann. Beide Institutionen haben eine besondere Wirkmacht. Alles, was auf der Bühne passiert, ist Theater. Alles, was im Museum passiert, ist Kunst. Das Autoren-Regie-Team Rimini Protokoll rüttelt mit seiner Inszenierung URBAN NATURE an der Deutungshoheit beider Räume.

Viele Elemente, die zu einer klassischen Theateraufführung gehören, sucht man in URBAN NATURE vergeblich: Es gibt weder Bühne noch Publikumsraum, weder Schauspieler*innen noch klassisches Drehbuch. Und auch die Erwartungen, die man sonst an den Museumsbesuch stellen würde, bleiben unerfüllt: Es gibt keine Gemälde oder Skulpturen, keine Podeste, Vitrinen oder erklärende Wandtexte. Die Inszenierungen von Rimini Protokoll lassen sich den beiden Institutionen so schwer zuordnen, dass sie ihre Stücke oftmals auf die Straße und in den Stadtraum hinein verlagern. Viele ihrer Projekte finden an öffentlichen Orten, auf Baustellen oder Fußgängerzonen statt und verbinden sich so mit unserer eigenen Lebenswirklichkeit.

Rimini Protokoll rütteln aber nicht nur an der Grenze zwischen Bühne und gelebter Realität, auch die Trennung zwischen Bühne und Publikum wird immer stärker aufgeweicht. In den sogenannten Video-Walks wird das Geschehen erst durch die Besucher*innen selbst realisiert. Die Unterscheidung zwischen Produktion und Rezeption wird aufgehoben. Die Teilnehmenden werden selbst zu Protagonisten, die das Bühnenbild bespielen und so zum Leben erwecken.

Der offene Raum des Museums ermöglicht ein weit angelegtes Set, in dem die Besucher*innen sich selbständig bewegen können. Gleichzeitig wird die klassische Vorstellung des lustvoll wandelnden Museumspublikums durch die besondere Funktionsweise der Inszenierung unterwandert. In der feingliedrig aufeinander abgestimmten Maschinerie spielt der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Alle 8 Minuten betritt eine neue Gruppe von Menschen das Set. Jede Handbewegung, jeder Schritt, jedes gesprochene Wort wird in ein genau getaktetes System eingeflochten. Damit verschränkt URBAN NATURE die Rezeptionshaltungen von Museum und Theater miteinander. Statt sich wie bei einem Ausstellungsbesuch frei durch den Museumsraum zu bewegen, werden die Teilnehmenden durch ein sorgfältig angelegtes System aus Regieanweisungen und szenografischen Setzungen durch das vielgestaltige Bühnenbild geleitet.

Rimini Protokoll arbeiten sich mit ihren Inszenierungen an den Bedingungen der beiden Institutionen ab und hinterfragen das Wertesystem, in das White Cube und Black Box eingebettet sind. Beide Begriffe sind mit Vorstellungen von Hierarchie und Distanz verbunden – eine Distanz zum Geschehen auf der Bühne und eine Distanz zu den sakralisierten Kunstwerken, die auf besondere Art und Weise präsentiert werden. Die Black Box des Theaters lässt das Publikum im Schwarz der Zuschauerränge verschwinden. Sie lässt uns die Anwesenheit der anderen Besucher*innen ebenso vergessen wie unsere eigene. Ganz anders in den Projekten von Rimini Protokoll: Sie fordern die Betrachter*innen heraus. Es gibt kein Narrativ mehr, das sich vor den Augen des Publikums entfaltet. Das Publikum selbst übernimmt die Verwirklichung des Geschehens – und beeinflusst dabei selbst, auf welche Art und Weise die Geschichten erzählt werden.

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